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Unnötige Operationen bei Fibromyalgie-Betroffenen?

Fibromyalgie-Patienten zeichnen sich bei der ersten Begegnung mit dem Arzt in aller Regel dadurch aus, dass sie – je nach Leidensdauer – oft nach Kilogramm messbare Untersuchungsbefunde mitbringen. Wenn man weiss, dass in Deutschland durchschnittlich 8,5 Jahre vergehen, bis eine Fibromyalgie überhaupt diagnostiziert wird, lässt sich leicht vorstellen, wie viele (überflüssige) Untersuchungen und therapeutische Bemühungen unterschiedlicher Art stattgefunden haben, die verständlicherweise zu keinerlei Ergebnis führten.

Es ist kein Geheimnis, wenn Fibromyalgie-Kenner, wie etwa Herr Prof. Müller in Bad Säckingen, von Beispielen zu berichten wissen, bei denen vor der endgültigen Diagnosestellung bei einer Betroffenen 17 (!) unnötige operative Behandlungen durchgeführt wurden, bis schließlich die Fibromyalgie als Ursache der chronischen Schmerzkrankheit bestätigt wurde. Bei diesen 17 durchgeführten operativen Eingriffen handelt es sich zum Teil um schwerwiegende, nicht korrigierbare Veränderungen am Stütz- und Bewegungsapparat, so etwa Operationen an Gelenken bis hin zu Teilversteifungen ganzer Wirbelsäulenabschnitte. Auch gynäkologische Operationen und Entfernung von Zähnen, waren bei dieser Betroffenen durchgeführt worden. Der geschilderte Fall ist kein Einzelfall, auch wenn er besonders drastisch und spektakulär ausfällt.

Die Ursache für die Fülle von diagnostischen Maßnahmen und die Häufigkeit von operativen Eingriffen, die in vermeintlich guter Absicht erfolgen, werde ich versuchen, darzulegen.

Die Fibromyalgie als langsam beginnendes, um sich greifendes chronifiziertes Schmerzsyndrom ist immer noch ein Krankheitsbild, das durch seine Undurchschaubarkeit nach wie vor erhebliche Probleme bereitet.

Die Betroffenen klagen über vielfache Schmerzzustände im Bereich der Gelenke oder der Gelenkumgebungen sowie der Weichteile. Am häufigsten werden die Beschwerden im Schulter-Nackenbereich sowie der oberen Extremitäten und der Wirbelsäule angegeben. Aus der Fülle von immer wieder nachweisbaren Fehldiagnosen möchte ich einige der gravierendsten beispielhaft nennen:

1. Schulterschmerzen
Die muskuläre Dysbalance (muskuläres Ungleichgewicht) der schulterumgebenden Muskeln, die bei nahezu allen Fibromyalgie-Patienten anzutreffen ist, führt über gesetzmäßige biomechanische Mechanismen zu einer fehlerhaften Gelenkführung der Schultern. Muskelansatzschmerzen an spezifischen Strukturen im Bereich der Schulter (Tender points) führen über ein gestörtes Empfindungssystem (Fehlinformation der Rezeptoren) zu einer fehlerhaften Gelenkmechanik (Artikulation) des Schultergelenks. Das sehr kompliziert funktionierende Schultergelenk erfährt bei seitlichem Hochheben des Armes bei einer solchen Störung ein Hochwandern des Oberarmkopfes in Richtung Schulterdach. Dadurch wird bei jedem Anheben des Armes der Raum zwischen Oberarmkopf und Schulterdach eingeengt, was naturgemäß bei einer gesunden Schulter nicht der Fall ist. Die Weichteilstrukturen, die durch eine solche fehlerhafte Gelenkfunktion in Mitleidenschaft gezogen werden, sind Schleimbeutel und Sehnen. Für eine gewisse Zeit tolerieren diese Strukturen die ständige Kompression, bis schließlich ganz plötzlich ein erheblicher Schmerzzustand entsteht, der das Anheben des Armes zur Seite und nach vorne nicht oder nur mit großen Schmerzen ermöglicht. In vielen Fällen wird durch den Arzt die Diagnose eines „Impingements“ (Einklemmung) gestellt. Das Impingement-Syndrom der Schulter ist eine sehr häufig gestellte orthopädische Diagnose, die leider in vielen Fällen ursächlich nicht durchschaut wird und daher auch in der therapeutischen Konsequenz vielfach ungenügend behandelt wird.

Die schmerzhaften eingeklemmten Strukturen reagieren mit einer entzündlichen Veränderung, wobei durch die Chronizität der Entzündung Kalkablagerungen auftreten. Die therapeutische Konsequenz ist in einfachen Fällen eine Injektion in die Schulterhöhle, wobei meist eine kortisonhaltige Injektion den entzündlichen Prozess beseitigen soll. Dies gelingt auch in den meisten Fällen, zumindest befristet. Ist die Ursache für den entzündlichen Reizzustand des Impingements aber nicht erkannt und aus diesem Grund auch nicht in die Therapie miteinbezogen, so wird sich zwangsläufig nach einiger Zeit eine Wiederholung (Rezidiv) dieser Funktionsstörung einstellen. In fortgeschrittenen oder immer wieder neu auftretenden Fällen wird sich der Arzt entschließen müssen, operativ vorzugehen, wobei unterschiedliche Eingriffe, zum Teil mit erheblichen Konsequenzen die Folge sind.

2. Ellenbogen

Ein besonderes Merkmal der Fibromyalgie ist die schmerzhafte entzündliche Reaktion einiger Muskelgruppen am Ellenbogen (Ansatztendinitis). Die am äußeren Ellbogenpunkt bestehende Schmerzhaftigkeit wird im Volksmund als Tennis-Arm bezeichnet. Diese Bezeichnung rührt daher, dass Tennisspieler, die sich eine falsche Grifftechnik angewöhnt haben, häufig das gleiche Schmerzproblem aufweisen. Nur ist bei dem Tennisspieler tatsächlich die Überforderung bestimmter Muskelgruppen durch den Sport die Ursache für den Schmerz, nicht hingegen beim Fibromyalgie-Patienten. Da beide Krankheitsbilder - beim Sportler und beim Fibromyalgie-Patienten - identische Befunde liefern, reagiert der Arzt vielfach uniform: Nach anfänglichen Injektionen an den Muskelansatz mit Kortisongemischen wird schließlich, weil nichts hilft, ein operatives Vorgehen durchgeführt. Hierbei wird in unterschiedlicher Technik eine Operation (nach Hohmann oder Wilhelm) durchgeführt. Der den Schmerz auslösende Muskelsehnenansatz wird hierbei vom Operateur mit dem Skalpell abgetrennt. Auf diese Art und Weise soll ein weiteres Ziehen des Muskels am Störpunkt unmöglich gemacht werden, was beim echten Tennisarm des Sportlers möglicherweise hilft, nicht hingegen beim Fibromyalgie-Patienten.

3. Karpaltunnelsyndrom

Unter einem Karpaltunnelsyndrom (CTS) versteht man einen schmerzhaften Engpass im Bereich des beugeseitigen Handgelenks. Ein quer verlaufendes Band komprimiert dabei den darunter verlaufenden Mittelhandnerven, der den Daumen sowie den Zeigefinger und einen Teil des Mittelfingers nerval versorgt. Meist tritt der Schmerz in der Nacht auf und führt zu schmerzhaften Empfindungsstörungen der beschriebenen drei Finger. Durch Hochlagern, Schütteln und Bewegen lässt sich in vielen Fällen der Schmerz verringern oder sogar beseitigen. Die Diagnose des Karpaltunnelsyndroms lässt sich vielfach recht einfach bestätigen, wenn man einen Blutdruckapparat zur Hand hat. Staut man den Oberarm mit der Blutdruckmanschette, in dem man die Manschette so stark aufbläst, dass der arterielle Blutstrom zwar in den Arm gelangt, der venöse Rückfluss aber durch die gestaute Manschette behindert wird, so kommt es nach dreißig bis sechzig Sekunden in aller Regel zum typischen Schmerzbild der Karpaltunnel-Symptomatik, wie sie auch nachts auftritt: Ziehende Schmerzen im Bereich der ersten drei Finger. Bei Ablassen der gestauten Manschette verschwindet der Schmerz sofort wieder. Zur exakten Diagnose wird durch einen neurologischen Test (EMG-Untersuchung) eine Bestätigung der Diagnose ermöglicht.

Bei Fibromyalgie-Patienten ist vermutlich auf Grund von venösen oder lymphatischen Rückfluss-Störungen und einer in den frühen Morgenstunden auftretenden Schwellneigung der Hände, eine bevorzugte Entwicklung eines Karpaltunnelsyndroms möglich. Ohne an die Fibromyalgie als Ursache zu denken, wird in solchen Fällen sehr rasch, meist zu übereilt, eine Karpaltunnel-Operation durchgeführt. Leider zeigt sich im Nachhinein, dass einige voreilig durchgeführte operativen Maßnahmen beim Karpaltunnelsyndrom gar nicht dem Engpass im Handgelenkbereich zuzuordnen sind, sondern vielmehr einem Engpass im Bereich des vorderen Halsdreiecks, durch welches das Halsnervengeflecht austritt.

Durch die muskuläre Verkürzung in dieser Region (mit nachweisbaren Tender points an der vorderen Schlüsselbeinregion) entsteht das Scalenus-Kompressions-syndrom, welches in einigen Fällen, entgegen der ersten Annahme eines Karpaltunnelsyndroms, die eigentliche Ursache für die Nervenschmerzen darstellt.

4. Wirbelsäule

Häufige bewegungs- und belastungsabhängige Schmerzen im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule, die durch eine Fibromyalgie entstehen, erzeugen Ausstrahlungsschmerzen in die Becken- und Beinregion, die als pseudoradikuläre Schmerzen bezeichnet werden. Vielfach sind die Schmerzen diffus, so dass sie nicht selten als bandscheibenbedingte Beschwerden aufgefasst werden. Dies führt dazu, dass viele Betroffene zum Ausschluss eines Bandscheibenvorfalles einer Computertomografie oder Kernspin-Tomografie zugeführt werden. Man muss sich vergegenwärtigen, dass jeder dritte Erwachsene einen „stummen“ Bandscheibenvorfall im Lendenwirbelsäulenbereich besitzt. Mit anderen Worten heisst dies, dass 30% aller Erwachsenen Bandscheibenvorfälle aufweisen, die keinerlei Beschwerden verursachen und Zufallsbefunde darstellen. Wird nun ein Patient, dessen Schmerzursache nicht von der Bandscheibe herrührt, untersucht und ein solcher stummer Bandscheibenvorfall gefunden, so entsteht oft der gedankliche Kurzschluss, dass endlich die Ursache für die chronischen Schmerzen gefunden werden konnte. Diese in Wirklichkeit gestellte Fehldiagnose führt leider zu den ergebnislos verlaufenden Bandscheibenoperationen, bei denen keinerlei Besserung der Schmerzsymptomatik zu erwarten ist, weil in Wirklichkeit nicht der Bandscheibenvorfall die Ursache für die Beschwerden war, sondern Störungen durch das Fibromyalgie-Syndrom selbst.

5. Kniegelenke

Ein Großteil der Fibromyalgie-Patienten klagt über muskuläre Ansatzschmerzen im Bereich des inneren Kniegelenks, meist knapp unterhalb des Kniegelenkspalts. Bestimmte Testverfahren, etwa zur Überprüfung der Menisken, bestätigen dann eine Meniskusdegeneration, die zwar vorliegt, aber für die Schmerzen nicht verantwortlich zu machen ist. Auch hier wird in vermeintlicher korrekt gestellter Diagnose eine Meniskusoperation durchgeführt, wenngleich die Schmerzursache nicht durch den degenerativ veränderten Meniskus zustande kommt. Verständlicherweise sind auch hier die operativen Ergebnisse unbefriedigend.

6. Unterleib

Bekanntlich sind etwa 90% der Fibromyalgie-Patienten Frauen. Durch die Besonderheit der Schmerzlokalisation ergibt sich hin und wieder der Verdacht auf das Bestehen einer gynäkologischen Funktionsstörung oder Erkrankung von Organsystemen im kleinen Becken. Vielfach wird aus Unkenntnis der Projektionsschmerzen, die von den Kreuzdarmbeingelenkregionen ausgehen und die sich in Richtung des Unterleibes projizieren, Veränderungen an der Gebärmutter als Schmerzursache fehlinterpretiert. Auch hier wird leider zu oft und unnötigerweise eine Gebärmutterentfernung (Hysterektomie) vorgenommen, wenngleich die eigentliche Ursache für die Beschwerden nicht im gynäkologischen Bereich zu suchen war.

Fazit:

Aus den wenigen genannten Beispielen lässt sich ablesen, wie schnell, zum Teil zu voreilig, operative Maßnahmen ergriffen werden, um eine vermeintliche Ursache der chronifizierten Schmerzen zu beseitigen. Der jeweils auf sein Fachgebiet spezialisierte Operateur (Chirurg, Orthopäde, Gynäkologe) ist durch die meist eingeengte Sichtweise seines „spezialisierten Blickwinkels“ oft nicht in der Lage, die Grunderkrankung der Fibromyalgie richtig einzuordnen und die entsprechenden therapeutischen Schlüsse zu ziehen.

Daher wird leider bei Fibromyalgie-Patienten eine Unzahl operativer Eingriffe durchgeführt, die in aller Regel bei ausreichend guter diagnostischer Bewertung des gesamten Krankheitsbildes als unnötig und daher vermeidbar angesehen werden müssen.

© 2013 Dr. med. Thomas Laser